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Telegram: Radikalisierungspotential auch in Herne

Lena am Jan. 22, 2022

Letzte Woche lief ein Mann mit einem Plakat mit der ungefähren Aufschrift „Ich bin gegen 2G und Impfflicht – nicht gegen das Impfen“ durch die Herner Innenstadt und ich dachte mir: Hey, das ist doch ne Position, die man auch vertreten kann. Da kann man doch auch drüber diskutieren. 

Der Mann lief neben einer Box her, aus der eine Durchsage kam, die von „einer erfundenen Pandemie“, „Maulkorbzwang als Unterwürfigkeitssymbol und Impfgift“ warnte. Das war der Moment, an dem ich meine Gedanken von zuvor wieder über den Haufen werfen musste. Wie können denn diese Aussagen miteinander vereinbart werden? Das ist doch widersprüchlich.


Der Grund dafür, dass solche total unterschiedlichen Menschen als Leugner:innen, Maßnahmenverweiger:innen, Querdenker:innen oder was auch immer, hier gemeinsame Sachen machen, ist die dezentrale Mobilisierung durch Telegram.


Ich denke nicht, dass es noch viel zu dem Messenger-Dienst Telegram zu sagen verlangt. Einst bekannt dafür, einen sicheren Kommunikationsweg für Oppositionelle in Ländern wie Weißrussland oder China zu bieten, kennen wir spätestens seit Namen wie Attila Hildmann und Michael Wendler auch eine andere Seite von Telegram. Aber was ist nun wirklich wichtig zu wissen? Telegram benötigt nur eine ganz niedrige Internetleistung, blockiert für alle Nutzerinnen und Nutzer die Handynummer und bei Bedarf ist alles, was du teilst und liest, sehr schnell wieder gelöscht – die App ist somit einfach zu handhaben, gewährt Anonymität und eine Art Sicherheit. 

Hier sorgt es allerdings dafür, dass ungefiltert Falschmeldungen, antisemitische, rassistische oder gewaltverherrlichende Inhalte im Umlauf sind. Bekannte Verschwörungstheoretiker können ungestört und ohne viel Aufwand ein breites Publikum erreichen und ihre Kanäle im Minutentakt mit ihren Inhalten befüllen. 


Dass sich binnen kürzester Zeit bundesweit für so viele Städte Gruppen wie die heute erneut laufenden Maßnahmenverweiger:innen gefunden haben, liegt an der Mobilisierung durch die rechtsextreme Kleinpartei „Freie Sachsen“. Im letzten Jahr haben sich bundesweite Ableger gebildet, die alle nach dem gleichen Prinzip funktionieren – für Herne liegt die Verantwortung dann bei den „Freien Nordrhein-Westfalen“. Von ihnen kamen die landesweiten Termine für die sogenannten „Spaziergänge“, von ihnen kommen explizite Handlungsanweisungen für die Teilnehmer:innen dieser Veranstaltungen und von ihnen kommen auch Rechtsbeistand im Falle rechtlicher Konsequenzen. Sie entscheiden, was in den Telegram-Gruppen gesagt werden kann und was nicht, wer spricht und wer nicht und liefern regelmäßige Texte, die die Leser:innen anheizen sollen. So schreiben sie wortwörtlich, dass ihre Veranstaltungen „niemals hinterfragt werden“ dürften und man sich ein Beispiel an den Dynamiken in den ostdeutschen Bundesländern nehmen solle, da dort noch keine langfristige „Umerziehung“ der Bürger stattgefunden habe.


Ich habe schon erwähnt, dass Menschen mit unterschiedlichen Meinungen und Haltungen in diesen Gruppen zusammenfinden. Allerdings sind auch keine Abgrenzungsmechanismen zu gewaltbereiten, rassistischen, oder verschwörungstheoretischen Inhalten zu erkennen. Ich habe heute Zitate aus diesen Gruppen mitgebracht, die ich jetzt vorlesen werde. Dabei bitte ich Sie alle, ein permanentes Anführungszeichen über meinen Kopf zu setzen: 

So fragt ein Nutzer: „Was ist falsch daran ein Deutscher zu sein mit dieser großen Geschichte nur weil eine kleine Zeit ein Fehlverhalten der Regierenden war?“, während andere den Impfstoff als „Gift“, „Angriff auf die DNA“ oder als krude Analogie zu dem Giftgas aus den Gaskammern der Nazis als „Zyklon C“ bezeichnen.

Corona sei bloß „Scheinpandemie“, eine „Lüge der Eliten“, um den „Great Reset“ und eine „New World Order“, also eine neue Weltordnung herbeizuführen, in der die Mächtigen noch mehr Macht und die einfachen Bürger:innen nichts mehr haben. Mit dahinter stecken demnach nicht nur Politiker:innen, sondern auch Ärzt:innen, die Pharmaindustrie und ja, auch das Freimaurertum habe seine Hände im Spiel – im Großen und Ganzen geht es dabei aber um eine angebliche Unterdrückung durch die wohlhabende Schicht. Nicht selten werden hier die Rothschilds oder eine sogenannte Finanzelite genannt. Dabei sehen sie sich als die Unterdrückten und setzen sich mit den Juden und Jüdinnen zur Zeit des Nationalsozialismus gleich. „Genau sowas gab es in Deutschland schon mal. Die Menschen separieren und dann still und mundtot machen und dann verschwinden lassen.“ Ich sage: Wer derartige Parolen befeuert und unterstützt, kann sich von der Verharmlosung der Shoa und von Antisemitismus nicht mehr freimachen!

Gemeinsam wollen sie auch als „die Erwachten“ den Umschwung, die Revolution herbeiführen. „auch wenns mit Gewalt ist anders geht es ja anscheinend nicht“ / „Wann wird es Zeit für den Generalstreik und Masken verbrennen?“ / „Vorbereitung zur Übernahme?“

Für die Zeit danach kündigen sie an, dafür zu sorgen, dass alle sogenannten „Täter der Corona-Diktatur“ vor Gericht „die Abrechnung“ erhalten würden – hierzu zählen sie nicht nur Politker:innen, Ärzt:innen und Teile der Polizei, sondern auch einfach diejenigen, die sich gegen sie stellen.

 

Nach solchen Aussagen muss ich erst einmal durchatmen. 

 

Das Radikalisierungspotenzial sowie die Gewaltbereitschaft in den Telegramgruppen, die hinter diesen Corona-Demonstrationen stecken, sind enorm. Sie stellen eine deutliche Gefahr für unsere Demokratie dar. Aber ich möchte auch festhalten: Auch wenn man als einfacher Bürger, der unzufrieden mit der Corona-Politik ist und Gleichgesinnte gesucht hat, in dieser Gruppe ist und mitliest, dann gilt es, sich von derartigen Äußerungen zu distanzieren. Es muss klar sein, dass hier eine klare Abwendung von demokratischen und rechtstaatlichen Grundprinzipien zu beobachten ist, gegen die wir uns stellen müssen. Denn die Grenze ist wirklich überschritten. Die Drohungen gegen die Herner Pfarrerin Melanie Jansen sind die Folge derartiger Telegram-Parolen. 

Ja, es ist auch für viele Menschen, die heute hier stehen, keine leichte Zeit. Nicht alle sind mit allen Punkten in der Politik einverstanden, viele haben Ängste und Zweifel, sind verunsichert. Aber lasst uns doch darüber sprechen und, wenn auch vielleicht etwas heftiger, darüber diskutieren, denn das ist Demokratie:

Mitmachen. Mitreden. Miteinander!

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