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"Spaziergänger:innen" aus Sicht des Förderkreises Mahn- und Gedenkstätte Polizeigefängnis Herne

Rolf Dymel am Feb. 05, 2022

Was mich beunruhigt, sind weniger die wenigen „Spaziergänger“ in Herne, eher schon die vielen Menschen, die in anderen Städten wie bspw. in unserer Nachbarstadt Bochum gegen die Schutzmaßnahmen vor dem Corona-Virus demonstrieren. Aber noch mehr beunruhigt mich die Tatsache, dass sich an diesen merkwürdigen Spaziergängen viele Menschen, auch jüngere beteiligen, die nicht zum harten Kern der neonazistischen Gruppen gehören. Obwohl es unübersehbar und unüberhörbar ist, dass Verschwörungsgläubige und Neonazis mit zunehmender Intensität und auch oft führend sich an diesen Demonstrationen beteiligen, hindert es sie nicht an ihrer Teilnahme. Merken sie es nicht oder stimmen sie insgeheim sogar zu, wenn die Einschränkung von Grundrechten während der Corona-Pandemie mit der Diktatur in der NS-Zeit verglichen wird? Da laufen Menschen mit, die sich einen Judenstern mit der Aufschrift „Ungeimpft“ an die Brust heften, da bekommt die rettende Impfung den Status der Gaskammern von Auschwitz. In diesen Vergleichen steckt letztlich eine reine Verachtung für die Opfer des millionenfachen industriellen Massenmordes an Jüdinnen und Juden. Indem man sich aufgrund einer Impfpflicht in einer Reihe mit den Opfern der Shoah stellt, will man den tatsächlichen Opfern in den Verbrechensorten der deutschen Faschisten ihren Opferstatus nehmen.

Hier, als Bestandteil dieser Spaziergänge kommt der alte Antisemitismus in neuer Form zurück, und dem und denen, die es mit einer schockierenden Selbstverständlichkeit tun, müssen wir uns entgegenstellen.

Aber noch wichtiger ist für mich die Frage, wie es kommen kann, dass viele mitlaufende Menschen diesen neuen-alten Antisemitismus schlicht tolerieren. Antworten finden sich zum Teil in den Ergebnissen neuer Studien des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld zur Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus und zur Auseinandersetzung mit dieser Zeit. Dabei fallen einige Erkenntnisse besonders auf:

Zum einen wird erneut deutlich, dass bei vielen große Wissens- und Bewusstseinslücken über die Zeit des Nationalsozialismus vorhanden sind, insbesondere bei denjenigen, deren Vorfahren in der NS-Zeit hier gelebt haben. Deutlich wird ihre Unwissenheit in Bezug auf eine mögliche Verwicklung der eigenen Vorfahren in die Verbrechen der NS-Diktatur. Es fehlen ihnen Kenntnisse, was hier vor Ort, vor ihrer Haustür, in den ihnen bekannten Stadtteilen und Straßen auch von Familienangehörigen, verübt oder einfach nicht gemacht wurde.

Zum anderen zeigen sich insbesondere bei etwa einem Fünftel der befragten jungen Menschen fehlende Abgrenzung von oder gar Zustimmung zu Versuchen zur Umdeutung der historischen Ereignisse und gruppenbezogenen menschenfeindlichen Einstellungen.

Andererseits zeigt sich bei der großen Mehrheit der jungen Erwachsenen ein grundlegend hohes Interesse an einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, insbesondere auch mit der Geschichte des Nationalsozialismus. So ermittelte das Rheingold-Institut im Auftrag des Arolsen Archives zum Ende des letzten Jahres, dass die Generation Z (16-25) ein deutlich höheres Interesse am Thema NS-Verfolgung hat als die Altersgruppe der 40- bis 60jährigen Menschen. Für die jungen Menschen ist dies ein spannendes, interessantes Thema, das für unsere Gegenwart und Zukunft eine hohe Bedeutung hat und mit dem man sich noch mehr beschäftigen sollte.

Gerade hier wollen wir mit unserer Initiative, eine Mahn- und Gedenkstätte im ehemaligen Herner Polizeigefängnis zu errichten, ansetzen. Es geht uns dabei nicht um ein weiteres rituelles Gedenken an die Opfer des NS-Terrorregimes. Damit würden wir ihnen nicht gerecht werden! Das Erinnern an die verschiedenen Opfergruppen, die an diesem Unrechtsort inhaftiert und misshandelt wurden, Widerständler aus der Arbeiterbewegung, Oppositionelle aus den christlichen Kirchen, Bibelforscher (Zeugen Jehovas) Juden, Sinti und Roma, Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und andere, das Erinnern aber auch an die Täter:innen in Polizei, Justiz und kommunaler Verwaltung und ihre ungezählten Mitläufer und vorgeblich „neutralen“ Zuschauer soll vielmehr aktive Lernprozesse anregen.

Dabei ist es nicht von entscheidender Bedeutung, ob die eigenen Eltern oder Großeltern eine Migrationsgeschichte haben oder nicht. Sich heute mit den historischen und lokalhistorischen Erfahrungen aus der NS-Zeit kritisch auseinanderzusetzen, kann und sollte möglichst den Weg frei machen, eine eigene Verantwortung für den gegenwärtigen Umgang mit den Folgen dieser Zeit anzunehmen. Welche Einsichten können gewonnen werden für unsere Gegenwart, wie sieht heute verantwortungsbewusstes Handeln aus, um zu verhindern, dass verhängnisvolle Tendenzen, wie sie auch bei den Corona-Protesten zu Tage treten, sich weiter verstärken?

Die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit mit lokalhistorischen Bezügen an und ausgehend von diesem authentischen Erinnerungs- und Lernort Polizeigefängnis soll Anstöße zur Entwicklungen von Kompetenzen geben, sich kritisch zu aktuellen Formen der Ausgrenzung von Menschen, des Rassismus, des Antisemitismus und des völkisch-nationalistischen Denkens verhalten zu können. Wie, mit welchen analogen und/oder digitalen Formaten das Lernen durch Erinnern hier ermöglicht werden kann, bspw. mit Ausstellungen, Führungen, Vorträgen, Filmen, Seminaren, Videokonferenzen und nicht zuletzt Recherchen zu lokalhistorischen Quellen wird hoffentlich bald Beratungsgegenstand sein.

Unsere Initiative, die wir vor ca. drei Jahren gestartet haben und die leider sowohl wegen der Blockadehaltung des Gebäudeeigentümers BLB NRW als auch wegen der Einschränkungen durch die Corona-Pandemie bis jetzt nicht umgesetzt werden konnte, erhält mittlerweile immer breitere Unterstützung.

So hat der Rat der Stadt Herne am 14. Dezember des vergangenen Jahres einstimmig eine Resolution zur Unterstützung unseres Vorhabens beschlossen und so haben bis jetzt mehrere hundert Menschen mit ihren Unterschriften unsere Initiative unterstützt. Wir bedanken uns bei denen, die fleißig Unterschriften im Verwandten- und Freundeskreis, in christlichen und islamischen Gemeinden, bei Parteien, Gewerkschaften und anderen Organisationen gesammelt haben, und die das hoffentlich auch noch weiter machen wollen.

 

Rolf Dymel

Vorsitzender des Förderkreises Mahn- und Gedenkstätte Polizeigefängnis Herne e.V.

http://erinnerungsort-herne.de/

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