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Gedenken an Hanau

Tuncay Nazik am Aug. 20, 2020

Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Said Nessar El Hashemi, Mercedes K., Can Gülcü, Bilal Gökçe,Sedat Gürbüz und Kaloyan Velkov, Vili Paun, Gabriele Rathjen.

Das sind die Menschen, die dem Anschlag in Hanau am 19.2.2020 zum Opfer fielen.
Unsere Herzen sind bei den Familien und Angehörigen der Verstorbenen, sowie bei den Verletzten, denen wir eine schnelle Genesung und Gottes Liebe und Barmherzigkeit wünschen.

Den Terroranschlag so zu beschreiben, wie er ist, nämlich als Terroranschlag, fällt vielen schwer. Die Versuchung, den Täter als Einzeltäter darzustellen, ist schon zum Reflex unserer Politiker & Politikerinnen und der Sicherheitsorgane geworden. Damit wird das ideologische Umfeld des Täters ausgeblendet. Er handelte als Einzeltäter, doch war er nicht allein in seiner Welt. Das ist auch keine Überraschung. Schon lange werden Rassistinnen & Rassisten hofiert und antimuslimische Parolen skandiert. Viele haben den Boden bereitet und das Klima geschaffen, damit Hetze verbreitet und somit dem Hass Tür und Tor geöffnet werden konnte. Damit ist nicht nur die AfD gemeint. Dass sie eine der geistigen Brandstifter*innen ist, muss nicht besonders erklärt zu werden.

Ist das aber alles?
Gauland war von 1973 bis 2013 Mitglied der CDU. Sarrazin ist seit 1973 Mitglied der SPD. Der selbsternannte Islamkritiker Abdel-Samad, Teilnehmer der 2. Islamkonferenz. Oder ein Mensch namens Hans-Georg Maaßen, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz oder andere Spitzenpolitiker aus der „ Mitte“, die am Tag der Auschwitz Befreiung direkt auf Muslime zeigen und die Worte „Nationalsozialismus“ oder „Deutschland“ nicht einmal erwähnen, obwohl der Holocaust ein deutsches Verbrechen und kein Muslimisches war.

Wenn Menschen jeden Tag mit rassistischer Rhetorik, mit Rechtsextremismus und mit Verschwörungstheorien zugedröhnt werden, tagtäglich hören, dass der Islam nicht zu Deutschland gehöre, dass die Migrant*innen wie Parasiten seien, die unsere Gesellschaft befallen haben – dann besteht die Wahrscheinlichkeit, dass manche Menschen sich berufen fühlen, die Gesellschaft wieder zu „bereinigen“. Den Worten folgen die Taten. Und die Message geht nicht nur in Richtung des weißen Mannes.
Es gibt ein türkisches Sprichwort, dass sinngemäß übersetzt bedeutet: „Wenn jemand vierzig Tage lang als verrückt bezeichnet wird, wird er am Ende verrückt werden“. Nicht seit vierzig Tagen und nicht seit vierzig Monaten, sondern seit vierzig Jahren werden Muslime oder andere Minderheiten als Gesindel, Parasiten, Schmarotzer, Terroristen, illoyal und als Kopftuchmädchen bezeichnet. Nichts davon geht, ohne eine Spur zu hinterlassen, einfach vorbei.

Die Gefahr von Angriffen auf Muslime wird immer noch unterschätzt. An dem Tag, als die Mitglieder der rechtsextremen Gruppe Teutonico verhaftet wurden, hatten sie geplant, Anschläge auf Moscheen in zehn Bundesländern verüben. Sie wollten Muslime töten.
Dazu schrieb der Rassismus-Forscher Osan Sekariya Keskinkılıtsch: „Muss ich erst getötet werden, damit ihr empört seid?“

Eine Woche später mussten wir uns empören, weil neun Migrantinnen & Migranten in Hanau ermordet wurden.
Ja, wir haben in der Politik, in den Medien und in Teilen der Gesellschaft ein Problem, das Anti-Muslimischer Rassismus heißt. Dass macht uns Angst.
Wir haben Angst, dass wir die Nächsten sein könnten.
Wir haben Angst, dass wir unsere Mütter, Schwestern, Töchter, Väter und Söhne verlieren könnten.
Wir haben Angst, dass die Pläne der Nazis, mit Angriffen auf die muslimischen Einrichtungen Gegenangriffe zu provozieren, aufgehen könnten.
Wir haben Angst, wenn Kinder und Jugendliche aus der Gemeinde, statt nach der Playstation oder dem nächsten Ausflug nach Köln zu fragen, über die eigenen Zukunftsängste sprechen: „Hoca, wenn die Deutschen uns nicht mehr haben wollen, wo gehen wir dann hin?“

Wir haben aber auch sehr viel Hoffnung und möchten uns nicht von unseren Ängsten leiten lassen.
Wir haben sehr viel Hoffnung, weil zu unserem Freundeskreis nicht nur Ayse, Gül, Ahmed und Ali sondern auch Ute, Elfi, Markus und Michael gehören.
Es macht uns Hoffnung, dass wir die Namen, derer, die uns Mut geben, auf mindestens fünf weiteren Seiten hätten aufschreiben können.
Wir haben sehr viel Hoffnung, wenn wir sehen, dass Woche für Woche hunderte Menschen in Herne sich gegen Rassismus positionieren.

Es macht uns Hoffnung, wenn wir persönliche oder schriftliche Solidaritätsbekundungen erhalten.
Es macht uns Hoffnung, wenn Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft, denen wir zuvor noch nie begegnet sind, sich bei uns melden und sich über unsere Arbeit freuen.
Es macht uns Hoffnung, wenn die Polizei unserer Gemeinde uns mitten im Freitagsgebet besucht und erklärt, dass der Staat sich um uns kümmert - dass wir uns in Sicherheit fühlen können.
Es macht uns Hoffnung, wenn wir uns mit unseren jüdischen, christlichen oder nichtgläubigen Freundinnen, Freunden und Bekannten auf einer Veranstaltung sehen,  wir uns fest umarmen und feststellen dass unsere Herzen gemeinsam für eine Sache schlagen - nämlich für ein friedliches Miteinander.

Tuncay Nazik – geschrieben am Tag des Amoklaufs.

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