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Erinnerung und Gedenken an die Reichspogromnacht 1938

Cordula Galla am Nov. 09, 2020

„Dann war es nur noch Nacht und kalt und die Funken der Synagoge stieben durch die Luft.“

Erinnerung und Gedenken an die Reichspogromnacht 1938
„Hinten in der Schule, die zum Synagogenbau gehörte, wurden die Türen eingeschlagen. Fritzlers holten uns aus den Betten. Wir rannten alle in den vorderen Bereich, während es hinten schon anfing zu brennen.“

Joel Katzenellenbogen war als Zwölfjähriger im November 1938 bei seinem Onkel Max Fritzler zu Besuch, der als Lehrer der jüdischen Gemeinde Wanne-Eickel in der Dienstwohnung der Synagoge wohnte. Alptraumhafte Sequenzen sind ihm in Erinnerung geblieben: die beißende Todesangst, plötzlich werden die Kinder aus einem Fenster herausgeschmissen, das Synagogendach bricht hinter ihnen zusammen, und ein Polizist, der sich seine Menschlichkeit bewahrt hatte, führt das Ehepaar Fritzler in letzter Sekunde aus dem brennenden Haus durch die drohende Menschenmenge hindurch.

„Dann war es nur noch Nacht und kalt und die Funken der Synagoge stieben durch die Luft.“

Die Kosten für Abbruch und Trümmerbeseitigung stellte die Stadt anschließend der jüdischen Gemeinde in Rechnung.

Wir erinnern heute an die Reichspogromnacht am 9. November 1938.

Wie in Herne und Wanne-Eickel wurden in dieser Nacht in ganz Deutschland und Österreich über 1.400 Synagogen, Betstuben und sonstige Versammlungsräume sowie tausende Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe zerstört.

Wie in Herne und Wanne-Eickel versammelten sich in dieser Nacht an vielen weiteren Orten Mengen von Schaulustigen, stimmten in die Hetzgesänge der Ausführenden ein und beteiligten sich vielfach an Zerstörungen und Plünderungen, während Polizeieinheiten und Feuerwehren lediglich darauf achteten, dass die Zerstörungen nicht auf Nachbargebäude übergriffen.

Wir erinnern daran, dass in dieser Nacht– einmal mehr – Nachbarn zu Gaffern, Marodeuren und Gewalttätern wurden.

Wir erinnern daran, dass die jüdische Bevölkerung bereits in den Jahren vor 1938 durch zahlreiche Gesetze ausgegrenzt und zu Bürgern zweiter Klasse gemacht worden war. Der 9. November 1938 ist jedoch eine Zäsur, er markiert den Zeitpunkt, ab dem die jüdische Bevölkerung in Deutschland vollständig entrechtet war und als vogelfrei angesehen werden konnte.

Der 9. November ist uns eine Mahnung, niemals zu vergessen, dass die jüdische Bevölkerung in der Zeit des Nationalsozialismus in noch nie dagewesener Weise zum Feind stilisiert wurde, entrechtet, vertrieben und schließlich weitgehend ausgelöscht.

Es ist auch die Mahnung, niemals zu vergessen, dass dies überhaupt erst möglich war, weil zu viele Menschen zu lange weggeschaut, geschwiegen oder mitgemacht haben.

Doch das Erinnern und Mahnen ist leer, wenn es nicht zu alltäglichem Handeln führt!

Handeln ist unverändert geboten, denn Antisemitismus hat in Deutschland nach wie vor einen fruchtbaren Boden: Der Anschlag auf die Synagoge in Halle im vergangenen Jahr ist uns allen noch im Gedächtnis, es gab weitere Anschläge und Übergriffe, die es nicht oder nur kurz in die Schlagzeilen geschafft haben, nicht zu vergessen die antisemitischen Diskriminierungen unterhalb der Strafbarkeit, zum Beispiel Pöbeleien im öffentlichen Raum und Postings in den sozialen Medien – vielerorts trauen sich Jüdinnen und Juden nicht, sich öffentlich als solche zu erkennen zu geben.

Worte haben im Dritten Reich den Boden bereitet für Antisemitismus in seiner fürchterlichsten Ausprägung. Worte bereiten auch heute den Boden für Taten:

Wenn Herr Gauland die Zeit von 1933 bis 1945 als „Vogelschiss in der deutschen Geschichte“ bezeichnet und Herr Höcke das Holocaust-Mahnmal in Berlin ein „Denkmal der Schande“ nennt, sind dies Versuche der Relativierung und Verharmlosung der Shoa und zusätzlich die Negierung einer Verantwortung im Hier und Heute.
Wenn die AfD, wie dieses Jahr in Hessen geschehen, den 9. November als „Schicksalstag der Deutschen“ zum Gedenk- und Feiertag erklärt wissen möchte, ist die Absicht ebenso leicht zu durchschauen: Im Gedenken an sehr unterschiedliche Wendepunkte der deutschen Geschichte soll das Gedenken an die systematische Verfolgung und Vernichtung jüdischen Lebens im Dritten Reich verwässert und in den Hintergrund gedrängt werden.

Aktuell werden bei zahlreichen Demonstrationen gegen die Coronamaßnahmen antisemitische Schuldzuweisungen für die Pandemie bzw. den Umgang mit ihr geäußert. Teilnehmende stilisieren sich durch das Tragen des so genannten Judensterns mit der Aufschrift „ungeimpft“ als Opfer im Sinne der Verfolgten im Dritten Reich – eine weitere Verharmlosung der Shoa und des Nationalsozialismus!

Führungsfiguren der Herner „besorgten Bürger“ haben unter dem Banner der „Bruderschaft Deutschland“ am 3. Oktober in Berlin gemeinsam mit der rechtsextremistischen und neonazistischen Kleinstpartei „Der III. Weg“ demonstriert, die sich offen antisemitisch positioniert. Damit haben sie einmal mehr deutlich gemacht, wo wir sie einzuordnen haben: Wer wissentlich und absichtlich mit Nazis marschiert, macht sich deren Ideologie zu eigen.

Vor dem Hintergrund dieser Beispiele sind die Ergebnisse einer Studie des World Jewish Congress, in der es u.a. um antisemitische Einstellungen in der deutschen Bevölkerung geht, erschreckend, aber nicht überraschend:
Ein Drittel der Befragten hält die Ausgrenzung bis hin zu Gewalt gegen Juden oder jüdische Symbole und das Aberkennen allgemein gültiger Rechte scheinbar für normal. Ebenso viele können keine Diskriminierung von Juden in Deutschland erkennen.

Im Einsatz gegen Antisemitismus sehen nur 20% der Befragten die Zivilgesellschaft in der Verantwortung. Mehrheitlich ist die Erwartung, dass die Regierungen und öffentlichen Institutionen dieser Verantwortung gerecht werden.

Selbstverständlich ist der Staat in der Pflicht, einen besseren Schutz vor Übergriffen, die Sicherung jüdischer Einrichtungen, eine effektive Strafverfolgung und intensive Prävention zu gewährleisten.

Das entbindet aber doch nicht die Zivilgesellschaft von der Verantwortung, wachsam zu sein, einzuschreiten, wenn z.B. in Diskussionen antisemitische Stereotype bedient werden, wenn auf der Straße jemand wegen seiner Kippa angepöbelt oder sogar geschlagen wird!

Im Gedenken an Joel Katzenellenbogen, an die 401 Opfer der Shoa aus Herne und Wanne-Eickel und an die vielen weiteren Jüdinnen und Juden, deren Leben durch die Ereignisse von 1933 bis 1945 zerstört wurden, erinnern wir daher heute auch und ganz besonders an unser aller Verantwortung:
Lasst uns eine aufmerksame und wache Zivilgesellschaft sein, die nicht wegschaut, sondern den Mund aufmacht, wenn Menschen diskriminiert werden.

Lasst uns eine Zivilgesellschaft sein, die gemeinsam dazu beiträgt, dass Auschwitz nie wieder sei!

Zitate und Erinnerungen entnommen aus dem Buch
Herne und Wanne-Eickel
1933 - 1945
Ein historischer Stadtführer
von Ralf Piorr (Hg.) 2013

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