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Alle Miteinander.

Jacob Liedtke am Jan. 29, 2022

Liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter,

liebe Bürgerinnen und Bürger dieser wunderbaren Stadt - die uns auch alle oft genug zur Verzweiflung treibt,

als Bürger:innen, im ureigentlichen Sinne des Wortes, haben wir uns heute einmal mehr gemeinsam hier auf dem Robert-Brauner-Platz eingefunden. Alle Miteinander. Uns eint das Gefühl, dass es nicht unwidersprochen bleiben darf, wenn auch nur die kleinste Gruppe demokratieverachtender Zeitgenoss:innen sich anschickt, sich unsere Straßen und unsere Plätze zu nehmen, um Desinformation, Verschwörungsglaube, um bequeme Schuldzuweisungen am Zustand der Welt, um Hass und Hetze auf ihnen zu verbreiten. Egal, welche schräge Ideologie sie antreibt. Uns eint, dass wir es als Bürger:innen für unsere Pflicht und unsere besondere Freiheit halten, sich in die öffentliche Debatte um Grundwerte unseres Zusammenlebens einzumischen, sich überhaupt einmischen zu können – und für diese Grundwerte zu streiten. Das alles mag nun vielleicht zunächst etwas zu sehr nach Sonntagsrede klingen, nach etwas Trivialem, Selbstverständlichem. Aber es fasst den Kern dessen zusammen, was ich heute hier sagen möchte und was ich für alles andere als selbstverständlich halte.

Wieso stehen wir hier – wieso glauben gleichzeitig aber so viele Menschen in dieser Stadt und im gesamten Land an eine herbeiphantasierte „Corona-Diktatur“ – und wieso bleiben viele Menschen zu Hause und mischen sich nicht ein?

Fest steht: Gelitten haben wir alle an den inzwischen fast zwei Jahren pandemischen Ausnahmezustandes. Ich finde es deswegen auch zunächst vollkommen richtig, darüber zu sprechen, wer welche Erfahrung mit dieser Krise gemacht hat und wo potentiell gemeinsame Interessen liegen, Dinge ab jetzt und im Anschluss an die Krise zu verbessern.

Ich persönlich war oft genug gestresst, habe mir Sorgen gemacht – vor allem um meine Liebsten, war oft genug müde und konnte mich angesichts der ganzen Coronaschwierigkeiten oft genug nicht von der Couch schälen. Dabei habe ich es aber noch ganz gut getroffen, ich konnte zum Gutteil von zu Hause arbeiten, musste mich nicht um meine ökonomische Existenz sorgen und betrachte mich deshalb als ziemlich privilegiert. Schwieriger waren die letzten zwei Jahre für das medizinische Personal, Erzieher:innen, Lehrer:innen und Eltern. Und natürlich für die Kinder und Jugendlichen selbst, die sich weiter der schulischen Leistungslogik unterwerfen mussten, ohne Gelegenheit zu Ausgleich, Ausbruch und Vergnügen in der Freizeit. Es ist weiterhin verdammt schwierig für Arme, für Menschen, die nicht in sichere soziale Gefüge eingebunden sind, für alle, die Rassismus und Antisemitismus erfahren müssen, für Menschen mit Behinderung, Kranke und Alte, die sich zurückziehen mussten, Frauen, die noch mehr Care-Arbeit leisten mussten als sonst, Sexarbeiterinnen, viele Menschen in prekären Berufen, viele Selbstständige, Gastronom:innen, Künstler:innen und so viele mehr. Sie alle aufzuzählen, wäre an dieser Stelle überhaupt nicht möglich. Aber auch, um allen Gruppen eine Stimme zu geben und einen Raum zu öffnen, in dem Betroffenheit und politische Forderungen artikuliert werden können, stehen wir hier und gibt es das Bündnis Herne.

Aber wieso verhalten wir uns jeweils – also wir hier, die selbsternannten Querdenker:innen und die Menschen, die zu Hause bleiben – gegenüber diesen vielen geteilten Gründen für Unbehagen und auch reales Leid politisch so grundsätzlich anders?

Ich glaube, der Grund für alle drei Gruppen liegt in der Art, wie wir dem Zustand dieser Gesellschaft jeweils politisch gegenübertreten, und er liegt unter dem großen Einfluss einer bedenklichen politischen und gesamtgesellschaftlichen Entwicklung: Große gesellschaftliche Debatten um eine bessere Einrichtung dieser Welt werden aktuell nicht mehr ernstlich geführt, politische Unterschiede zwischen den Parteien sind zwar weiterhin deutlich, aber zu häufig auch marginal, es gibt kaum Institutionen im politischen und vorpolitischen Raum, die noch über eine große Bindungskraft verfügen, neoliberale Selbstoptimierung und der zugrundeliegende ökonomische Zwangszustand vereinzelt uns, und es wird uns seit Jahren und Jahrzehnten auf unterschiedliche Weise eingehämmert, dass wir doch alle die Schmied:innen unseres Glückes sein. Die Pandemie und das sogenannte „Social Distancing“ waren nochmals Öl ins Feuer dieser Vereinzelung. Das haben wir bereits bei unserer Onlinetagung „Corona und die Stadtgesellschaft“ im Dezember 2020 diagnostiziert. Es darf daher nicht verwundern, wenn einige in ein regressives „Ich, Ich, Ich“, in Trotz und in Überhöhung der ureigenen Partikularinteressen verfallen.

Wir aber stehen heute hier einmal mehr gemeinsam auf dem Robert-Brauner Platz. Das ist der erste Schritt, um Vereinzelung und Egoismus zu überwinden und für eine solidarische Lösung offener politischer Fragen zu streiten. Vor einigen Wochen habe ich bei der Begrüßung zu einer unserer Kundgebungen kurz von der Kraft von Symbolen gesprochen, ich habe daran erinnert, wie zu Beginn der Pandemie von Balkonen musiziert wurde, wie Einkaufshilfen organisiert wurden, und wie man im Angesicht einer bisher ungekannten Bedrohung zusammengerückt ist. Ich bleibe dabei, diese Symbole und kleinen Gesten sind weiter notwendig. Aber allein reichen sie nicht. Ein dauerhaftes Überwinden unerträglicher Zustände, von Ungerechtigkeit und neoliberalem Vereinzelungsdenken, gibt es nur in der dauerhaften Organisation und der konsequenten politischen Arbeit.

Ich will deswegen nochmals Danke dafür sagen, dass eine große Zahl Herner Bürger:innen Woche für Woche am Willi-Pohlmann-Platz, am Europaplatz und hier auf dem Robert-Brauner-Platz ein Zeichen setzen für die demokratische Gesellschaft. Ich will aber auch sagen: Zieht Kraft aus diesem Zeichen und geht weiter, bringt euch in Strukturen ein, kämpft in Parteien, Gewerkschaften, Betriebsräten, Vereinen und Initiativen dauerhaft für eure Interessen und für politische Veränderung.

Bei alledem aber ist natürlich aber das Wichtigste, dass ihr auf euch Acht gebt. Versucht weiterhin, den Kopf oben zu halten in diesem ganzen Corona-Chaos. Tut so oft wie möglich Dinge, die euch guttun, erkennt eure eigenen Grenzen und investiert die Kraft, die ihr jeweils investieren könnt, in das Eintreten für die Dinge, die euch wichtig sind.

Also: Achtet auf euch, achtet weiterhin aufeinander. Bleibt gesund! Und organisiert euch.

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